Es wird immer wieder gefordert, dass sich die Anthroposophische Gesellschaft von bestimmten Stellen in Steiners Werk distanzieren solle.
Eine solche Forderung macht bei genauer Betrachtung gar keinen Sinn. Sie geht davon aus, dass diese Gesellschaft eine Art von Glaubensgemeinschaft oder Kirche sei, die auf einem Dogmengerüst beruhe.
Die anthroposophische Gesellschaft ist eine Vereinigung von freien Menschen, die sich auf der Grundlage von bestimmten Statuten zusammengefunden haben. Wenn ein Mitglied gegen diese Statuten verstößt, dann besteht Handlungsbedarf.
Alles andere spielt sich in der Sphäre des freien Geisteslebens ab. Alle Meinungen und Forschungen stehen allen Menschen frei zur Verfügung. Jedes Mitglied ist frei, sich einer Meinung oder einem Forschungsergebnis eines anderen Menschen anzuschließen. In einer Welt, die bewusst oder unbewusst völlig nach Dogmen lebt, ist der Charakter einer wirklich freien Vereinigung auf der Grundlage eines wirklichen freien Geisteslebens wohl noch unverständlich. Daher entstehen auch solche Forderungen nach Distanzierung von gewissen Gedanken Rudolf Steiners.
Die Grundforderung eines freien anthroposophischen Geisteslebens ist, dass jedes Mitglied nur das nach außen vertritt, was es mit eigener Erkenntnis durchdrungen hat. Die Wiedergabe von anthroposophischen Inhalten ohne eigene Erkenntnis hat heute etwas Unberechtigtes, wenn es nicht - wie bei einem Zitat - verdeutlicht wird, dass man in diesem Moment nicht aus eigener Erkenntnis schreibt oder spricht. Spreche ich Inhalte nach, die ich nicht mit Anschauung und Erkenntnis durchdringe, dann hat das tatsächlich den Charakter des Glaubens oder des Dogmatischen.
Studiert man Texte, die von Anthroposophen verfasst werden, so wird man immer wieder Ungenauigkeiten in dieser Beziehung bemerken.
Jeder Mensch, ob Anthroposoph oder nicht, kann oder muss sich den Inhalten von Steiners Werk gegenüber frei fühlen. Er kann Teile annehmen oder nicht. Er kann mit seinem individuellen Erkenntnisstreben die Inhalte in sich bewahrheiten oder nicht.
Er kann selbstverständlich auch Inhalte ähnlich wie Glaubensinhalte aufnehmen, auch diese Freiheit hat er. Nur entspricht Letzteres nicht voll dem Erkenntnisanspruch, der sich aus der Anthroposophie selbst heraus ergibt. Man wird auch anthroposophische Gedanken zunächst in die eigene Seele aufnehmen, ohne sie zu verstehen oder erkannt zu haben. Man wartet dann, bis sie durch das Leben selbst oder die weitere, folgende Erkenntnisbemühung ihre Bestätigung finden. Der Erkenntnissuchende wird dann aber eher über diese Inhalte je nach den Menschen, mit denen er kommuniziert, schweigen oder dementsprechend vorsichtig sprechen.
Kein Anthroposoph muss deshalb für die Gedanken eines anderen haften, sie rechtfertigen oder widerlegen. Ich stehe mit meinen eigenen Erkenntnisse frei neben den Erkenntnissen Rudolf Steiners. Niemandem gegenüber muss seine Erkenntnisse rechtfertigen, gerade wenn sie den meinigen nicht entsprechen.
Die obigen Erörterungen beziehen sich nur auf die Frage der Erkenntnis von wahr und falsch bei anthroposophischem Geistesgut. Das Verhältnis des esoterischen Schülers diesem Geistesgut gegenüber ist damit nicht gemeint. Hier gelten andere Gesichtspunkte.
Wie absurd diese Distanzierungsforderung ist, wird vielleicht an einem historischen Vergleich deutlich: Wir alle sind heute auch in gewisser Hinsicht „Aristotelianer“, da fast unser gesamtes abendländisches Kulturleben und alle Wissenschaft in irgendeiner Weise auf der Philosophie des Aristoteles beruht, und doch wird niemand verlangen, dass man sich von dessen Haltung zur Sklaverei distanziert. Hier ist es selbstverständlich, dass das Verhältnis der heutigen Menschen zu ihm ein ganz freilassendes ist, auch wenn die ganze Welt ihren Nutzen aus seiner Philosophie hat. So kann man auch jeden beliebigen Nutzen aus der Anthroposophie für sich ziehen, ohne alle Gedanken Steiners befürworten oder erkannt haben zu müssen.