8.2.12

Herbert Vetter: Anthroposophisches Hellsehen

Der Goldschmied Herbert Vetter im Gespräch mit Ingo Hoppe
© Novalis 2003

Die Erforschung der übersinnlichen Welten, durch die wir die tieferen Ursachen der Vorgänge unserer gewöhnlichen Sinnenwelt ergründen können, ist prinzipiell jedem Menschen möglich, wenn er sich entsprechend schult. Rudolf Steiner hat detaillierte Angaben für die Ausbildung übersinnlicher Erkenntnisfähigkeiten gegeben und gliedere diese in die Dreiheit: Imagination, Inspiration und Intuition.
Er hat schon Zeit seines Lebens erwartet und erhofft, dass möglichst viele Menschen diesen Weg gehen, damit eine fruchtbare Weiterentwicklung der Anthroposophie möglich wird. Ferner hat er vorausschauend darauf hingewiesen, dass während der gegenwärtigen Jahrhundertwende viele Menschen inkarniert sein werden, die einen besonderen Bezug zur Anthroposophie mitbringen und neue Begabungen in sich trage, die eine Ausbildung übersinnlicher Fähigkeiten begünstigen.
Anthroposophisches Denken müsste folglich erwarten, dass in der Gegenwart Menschen gefunden werden können, die auf andere Weise übersinnlich arbeiten können, bzw. das Talent dazu mitbringen. Fänden sich solche Menschen nicht, so wäre dies ein Gegenbeweis gegen die diesbezüglichen Aussagen der Anthroposophie. Wäre Rudolf Steiner bis heute und in alle Zukunft hinein der einzige anthroposophische Hellseher, so wäre die Anthroposophie in Gefahr, sich selbst zu widerlegen.
Dass sie sich nicht widerlegt, dafür mag das folgende Interview mir dem Goldschmiedemeister Herbere Vetter ein Beispiel sein. Denn er ist einer von - gar nicht mal wenigen - gegenwärtig lebenden Anthroposophen, die durch ihre eigene übersinnliche und künstlerische Arbeit zeigen, dass wir keineswegs dazu verurteilt sind, Bücherwürmer der Gesamtausgabe Rudolf Steiners zu sein.

Biographische Etappen auf dem Weg zur geistigen Forschung


Sie beschreiben als eigentliche Grundlage Ihrer Arbeit in Kleinodienkunst, Eurythmie, Beratung usw. Ihre geistig-übersinnliche Forschung?
Ja, das ist die Grundlage.

Wann hatten Sie Ihre ersten übersinnlichen Erfahrungen?
Begonnen hat es mit sechs Jahren. Ich ging mir meinen Geschwistern - wir waren zwölf Kinder zu Hause - bei Hochwasser durch einen Fluss und wäre dabei fast ertrunken.
Dabei erlebte ich die andere Seite des Lebens als übersinnliche Erfahrung, was mich so beeindruckte, dass ich, als man mich rettete, gar nicht zurück wollte, sondern mich sogar gegen die Rettung gewehrt habe. Das war meine erste geistige Erfahrung. Später, ebenfalls noch als Kind, haue ich dann E, in denen ich fast alle meine vergangenen Erdenleben schauen durfte. Allerdings war es nicht bewusst, sondern unbewusst, das heißt, ohne dass ich mich selbst als Person erkannt habe, sondern ich bin nur in diesen Gebäuden und in der Vergangenheit herum gelaufen, ohne dass ich gewusst habe: Das bin ich selbst. Für mich war das so real, wie wenn ich hier auf der Straße herumgehen würde. Immer nachdem ich ins Bett ging und einschlief, bin ich aus meinem Körper herausgegangen, über Pforzheim geflogen und in diese Welten hineingegangen. Es waren eigentlich Wachträume, man kann sagen, dass ich meine vergangenen Leben wach geträumt habe.
Mit zweiundreißigeinhalb Jahren hatte ich dann ein weiteres sehr großes Erlebnis geistiger Natur. Das war auch die Zeit, als ich mir der Anthroposophie in Berührung kam. Dieses Erlebnis bestand in realen Wahrnehmungen von geistigen Wesen, insbesondere von einem geistigen Wesen. Das hat mein ganzes Leben mit einem Schlag umgewandelt.

Dieses Erlebnis kam völlig spontan?
Spontan, ja, morgens beim Aufwachen. Und vierzehn Tage später lernte ich die Anthroposophie kennen.

Wie war Ihr Leben vor diesem Erlebnis?
Ja, da würde ich sagen, habe ich verschlafen gelebt, in der Kindheit sehr verschlafen, während mir die Welt durch diese neue Erfahrung viel bewusster geworden ist. Ich wusste aus der Kindheit: Die geistige Welt gibt es für mich, aber sie war sonst in der Kultur nirgends zu finden. In der Anthroposophie habe ich sie dann gefunden.

Als ich Steiner las - ich habe zuerst die Arbeitervorträge gelesen - war das für mich eigentlich alles selbstverständlich. Es war sogar so, dass ich damals gedacht habe: "Da denkt noch jemand so sonderbar wie du". In meinem Bekanntenkreis war mir immer gesagt worden: "So wie du denkst, so denkt man doch nicht". Als Jugendlicher bin ich oft stundenlang in den Wald gegangen und habe mir vieles von dem bereits selbst entwickelt, was ich später bei Steiner wiedergefunden habe. Die Nebenübungen, die Gedankenübungen und anderes: Das war für mich bereits selbstverständlich. Die Arbeitervorträge Steiners waren auch das erste Buch überhaupt, das ich ausgelesen habe. Alle anderen Bücher, mit denen ich vor meiner Begegnung mit Anthroposophie in Berührung kam, waren für mich einfach langweilig. Ich fand in ihnen keinen Inhalt. Ich habe ein paar Seiten gelesen und sie dann weggelegt.

Andere spirituelle Richtungen als die Anthroposophie haben Sie bis zu Ihrem zweiunddreißigsten Lebensjahr nicht kennengelernt?
Nein. Ich bin als Kind neuapostolisch erzogen worden, hatte evangelischen Religionsunterricht in der Schule, habe katholisch geheiratet - und alle drei waren "allein selig machend" . Damit war mir klar geworden, dass es mit der Kirche für mich zuende war. Jede Kirche hatte den Anspruch, sie führe allein ins Himmelreich; das war der Punkt, wo dieser Glaube für mich zu Ende war. Da wusste ich: Hier kann der Weg nicht weitergehen.

Vorher waren Sie jedoch gläubig gewesen?
Ja, sehr gläubig sogar. Aber mit achtundzwanzig war Schluss, da bin ich überall ausgetreten. Ich hatte auch erkannt, dass jede Kirche an etwas ganz Speziellem arbeitet, was mir einfach zu kleinlich wurde. Die Neuapostolischen arbeiten sehr am Kollegialen, am Miteinander, die Katholischen mehr am Sakrament - und überall sind dann noch die Dogmen drauf.

Wie haben sich Ihre geistigen Erfahrungen weiterentwickelt?
Mit 33 Jahren habe ich die Eurythmie kennen gelernt, woraufhin ich bei Felix Wilde acht Jahre lang viel Eurythmie gemacht habe - jede Woche ein bis zweimal. Später habe ich einen Laienkurs gegründet. lch habe auch in meiner Firma mit meinen 28 Mitarbeitern jeden Tag Eurythmie gemacht, woraufhin es sowohl künstlerisch als auch im Umsatz der Firma deutlich bergauf ging. Das war auch die Zeit, in der ich - etwa mit 40 Jahren - mit der eigentlichen Kleinodienkunst begonnen habe. Vorher war ich als Juwelier tätig, habe fast alle Schweizer Uhrenfirmen beliefert, auch in Deutschland, d. h. ich habe ganz allgemein Schmuck hergestellt, Juwelen, Uhren usw ..

Die Eurythmie hat also Ihre handwerkliche Tätigkeit künstlerisch belebt?
Ja, sie wurde der Mittelpunkt für meine Kleinodienkunst. Die Eurythmie ist die Voraussetzung für die Kleinodienkunst. Ohne Eurythmie kann man keine Kleinodien machen. Mit der Sprache ist es ebenso:
"Kleinod" heißt: "von Odin kommend, kleines Wort". Wenn das kleine Wort in Form und Farbe nicht offenbart wird, kann man keine Kleinodien machen, sondern allenfalls nachkupfern, was bereits gegeben worden ist.Jeder Mensch ist ein "kleines Wort", ein Kleinod; deswegen kann ich nicht dabei stehen bleiben, lediglich das nachzukupfern, was Steiner damals für die Kleinodienkunst gegeben hat. Sondern ich muss selbst eintauchen, einmal in den Menschen, in das Wesen des Menschen und schauen: Was ist sein Wort? Was sind - als Imagination - seine Begabungen, sein Wollen in der Welt?

Und aufgrund solcher Imaginationen von einem bestimmten Menschen stellen Sie dann ein individuelles Schmuckstück für diesen Menschen her?
Ja, das Schmuckstück entsteht in Verbindung mit diesem Menschen. Die Beratung ist eigentlich das Wichtigste.

Übersinnliche Schau der Eurythmie

Wie hat sich Ihre Beziehung zur Eurythmie weiterentwickelt?
Nach den acht Jahren Eurythmie bei Felix Wilde harre ich ein Erlebnis, in dem ich die Eurythmie in der geistigen Welt schauen durfte. Dadurch begann für mich - nach einer schweren Krankheit - ein völlig neuer Weg: ich musste mir die Eurythmie noch einmal selbst erarbeiten.

Könnten Sie Ihre Schau der Eurythmie in der geistigen Welt näher beschreiben?
Diese Schau sieht so aus, dass ich in der geistigen Welt die geistigen Hierarchien, die Engel und Erzengel schaue, wie sie Eurythmie machen. Wenn diese Wesen Eurythmie machen, ist es ja so, dass deren Tätigkeit unmittelbar und sofort wirksam ist. Da ist solch eine Kraft anwesend: Wenn die etwas sprechen - sie sprechen in Gebärden - dann ist das, was sie sprechen, sofort auch Tätigkeit, also etwas, das in der Welt real geschieht. Wir Menschen können uns noch eine Vorstellung machen und es damit genug sein lassen, bzw. es erst hinterher ausführen. Bei den geistigen Hierarchien hingegen ist mit dem Gedanken die Tatbewegung gleichzeitig gegenwärtig - und zwar Tat auch auf der Erde.
Durch diese Bewegungen - so durfte ich es schauen - werden bei Nacht alle Organe des Menschen aufgebaut: Das sind alles eurythmische Gebärden und Bewegungen. Damit erkannte ich gleichzeitig den Hintergrund - aus diesem vokalischen, kosmischen Rhythmus heraus -, den ganzen Aufbau der Heileurythmie.
Diese meditativen Erfahrungen begannen bei mir etwa mit 48 Jahren und brachten mir etwas völlig Neues. Ich musste es erst viele Jahre lang durch mich selbst weiterentwickeln. Jetzt ist die Zeit gekommen, in der ich es auch an andere weitergeben kann.

Anthroposophische Meditationen und die Umwandlung des atavistischen Hellsehens

Haben Sie in der Zeit seit Ihrer ersten Begegnung mit der Anthroposophie mit zweiundreißigeinhalb bis zum Beginn dieser Schauungen die Meditationen des anthroposophischen Schulungsweges gemacht?
Ja, absolut. Das war für mich immer das Wichtigste. Tägliche Meditationen sind Voraussetzung.

Wie hat sich die anthroposophische Meditationspraxis auf den Charakter Ihrer geistigen Erfahrungen ausgewirkt?
Gegen Anfang machte sich folgende Veränderung bemerkbar: Ich hatte bis zu meinem vierzigsten Lebensjahr ein sehr starkes Verantwortungsgefühl in mir. Mein ganzes Handeln resultierte aus einer inneren Verantwortung heraus. Mit dem Beginn der Meditation merkte ich, wie diese Verantwortung langsam verloren ging. Es kam eine Phase, die für mich wie eine Zeit der Freiheit war, in der ich keine besondere Verantwortung mehr in mir spürte. Ich fühlte mich freier, nicht mehr verpflichtet, nicht mehr von innen gepresst, nicht mehr von den Vorstellungen gepresst. Ich begann, mich in der Welt völlig frei zu fühlen.
Gleichzeitig sind aufgrund der Meditationen die geistigen Erkenntnisse immer größer geworden. Und aus diesen Erkenntnissen ist dann eine neue Verantwortung hervorgegangen.

Worin besteht der Unterschied zwischen der alten und der netten Verantwortung?
Der Unterschied ist, dass ich bei der neuen Verantwortung weiß, warum ich etwas tue. Ich bin frei, ich weiß: Wenn ich so oder so handle, dann sind dies oder das die Reaktionen - aber ich muss nicht handeln. Während früher, bei der alten Verantwortung, es die Vorstellungen waren, die mich zum Handeln getrieben haben - und zwar ohne, dass ich meine Vorstellungen betrachtet habe. Der anthroposophische Schulungsweg hat mir also ein großes Freiheitserlebnis gebracht und damit verbunden ein Hineinschauen in geistige Welten. Und aus diesem Schauen eine neue Verantwortung. Im äußeren Leben gründete ich während dieser Zeit, mit 42 Jahren, die Kleinodienschule, woraufhin ich sieben Jahre als Ausbilder und Goldschmiedemeister tätig war. lch habe meine Firma damals in eine Kleinodienschule umgewandelt und viele Goldschmiede mit staatlicher Prüfung ausgebildet, Kurse im Siegelschmieden gegeben und vieles mehr.
In diesen sieben Jahren habe ich sehr freudige aber auch sehr schmerzhafte Erlebnisse innerhalb der Ausbildung. Mit 48 Jahren habe ich die Schule in diesem großen Stil abgebrochen, nur noch Kurse gegeben und allein als Künstler gearbeitet. Mein Sohn Mattheus war sozusagen der letzte, den ich zum Goldschmied ausgebildet habe. Ich bin als Künstler sodann einige Zeit hinaus gegangen und habe viele Seminare und Vorträge gehalten. Die Themen waren hier vor allem die Nibelungen-, Parzival- und die Lohengrinsage, daneben die sieben Metalle und die zwölf Edelsteine in ihrem Zusammenhang mit dem Wesen des Menschen.

Haben die anthroposophischen Meditationen in Ihren übersinnlichen Erfahrungen eine größere Erkenntnissicherheit bewirkt?
Man muss hier ja klar unterscheiden: Das Hellsehen, das ich in meiner Jugend hatte, würde ich "atavistisch" nennen. Aber nur, was man als Atavismus, als Begabungen in der Jugend mitbringt, kann man später in Bewusstsein verwandeln. Mit anderen Worten: Wer keinen Atavismus hat, hat später auch kein Bewusstsein, Sie können nur das in Bewusstsein verwandeln, was Sie bereits als Atavismus mitbringen. Jeder Mensch bringt Atavismus mit. Das ist gleichsam wie das Mehl für das Brot, das er später in Bewusstsein verwandeln kann. In der Anthroposophie wird Atavismus oft sehr negativ beschrieben - er ist aber die Voraussetzung.

In der Anthroposophie wird auch gesagt, dass atavistisches Hellsehen bei einem Menschen verschwinden kann, wenn er anfängt, Anthroposophie zu studieren ...
Ja, das verschwindet. Meine alte Art des Hellsehens hat sich vollkommen verloren. Ich stand dadurch auch zeitweise in einem Trauerzustand - aber dafür war ja der Freiheitsmoment da. Das alte Hellsehen war so, dass ich, wenn ich durch die Stadt ging, die Menschen kaum anschauen konnte, weil ich Angst hatte vor all dem, was mir da entgegen kam.

Was kam Ihnen da entgegen?
Wenn ich zum Beispiel in einer Gastwirtschaft war, wo sich die Menschen entsprechend benommen haben, so sah ich eine Art von bizarren Köpfen und Wesen, die durch den Scheitel der Köpfe in die Menschen hinein gingen und dann durch den Menschen hindurch als groteske Grimassen erschienen. Die Wesenheiten gehen alle durch den Kopf hinein, wie durch einen Trichter. Als Bilder wahrgenommen erscheinen sie als Wesen mit merkwürdigen Köpfen, kleinen Körpern, großen Armen, usw., welche durch den Menschen hindurch nach außen hin in Gesten erscheinen.

Solche Erlebnisse haben Sie damals fortwährend umgeben?
Nicht gerade fortwährend, aber sobald ich etwas in Ruhe kam - und das war schmerzhaft. Durch den Schulungsweg ging dieses Hellsehen später wie gesagt ganz verloren. Das neue Schauen bedingt hingegen immer, dass ich mich in Meditation versetze.

Sie haben das Hellsehen also jetzt nur in der Meditation?
Ja, bzw. wenn ich in Seminaren unterrichte oder Eurythmie gebe, dann ist es auch da. Wenn ich eine Woche lang Seminar gebe, dann lebe ich etwa nach drei Tagen so im Geistigen, dass das Schauen auch da ist.

Sie haben also auch die Freiheit, das Schauen auszublenden?
Absolut ja, jederzeit. Ich kann es völlig ausblenden, völlig frei. Das Schauen in die geistige Welt setzt bei mir immer die Meditation voraus.

Es gibt nach Steiner noch eine andere Art von Hellsehen, die weder atavistisch, noch durch bewusste Schulung erworben ist, sondern die sich heute ganz natürlich in der Menschheit entwickelt ...
Ja, das ist etwas, was ich immer wieder betone: Das ist das neue Hellsehen, das die Jugend heute mitbringt. Das steht eine Stufe höher als das atavistische Hellsehen. Aber solange es noch nicht geschult wird, hat es noch atavistischen Charakter. Deswegen gibt es ja den Schulungsweg.
Die Jugend ist heute hellsichtig, aber es liegt bei ihr noch die Gefahr vor, dass sie zwar hellsehend ist, aber dieses Hellsehen noch beurteilt. Was sie schaut, ist noch nicht urteilsfrei. Das heißt: Ich schaue irgend etwas, beispielsweise bei meinem Lehrer, und urteile: "Das ist gut, das ist schlecht, das gefällt mir, das gefällt mir nicht". Man haftet sympathisch-antipathisch am Urteilen. Dagegen setzt ein bewusstes Hellsehen, das man sich selber erwirbt, voraus, dass ich nicht mehr urteile. Sondern ich sehe an den individuellen Fähigkeiten und Unfähigkeiten, die jeder Mensch mitbringt, die Notwendigkeit, dass gerade das seine Biographie ist und seine besondere Individualität. Also gerade das, was ich vorher verurteilt oder beurteilt habe, das schaue ich jetzt bei den Menschen als deren Größe.

Dadurch erkennen Sie also gerade die problematischen Seiten eines Menschen als das, was mit seiner individuellen Besonderheit zusammenhängt?
Ja, dass gerade darin die Entwicklung dieses Menschen enthalten ist. Das, was ich früher als negativ erlebt habe, sehe ich jetzt gerade als Positives, als Chance, als Zukunft und als Individualität; denn an diesen Punkten arbeitet und reift er, wird er bewusster Mensch. Nur das bringt er ja in sein eigenes Ichbewusstsein hinein. Die Einseitigkeiten, die bei einem Menschen entstehen, gehören zu der Entwicklung der Individualität eines Menschen notwendig hinzu. In der Verstandesseelenentwicklung darf der Schüler keinen Fehler machen, weil er sich sonst nicht weiterentwickelt. Wir leben aber heute Im Zeitalter der Bewusstseinsseele. Und in diesem Zeitalter wird dem Schüler nur das zu vollem Eigentum, was er falsch gemacht hat. Alles, was wir im Leben falsch machen, das haben wir als Bewusstsein, als unsere Gabe. Denn das gehört uns wirklich, das wissen wir wirklich; denn wir haben es selbst durchlitten. Dies ist das wirkliche Durch-die-Erde-Hindurchgehen, der Weg der Platoniker. Die Platoniker haben das alles a.m eigenen Leib erfahren. Dadurch tragen sie das Wissen in ihrem Ichbewusstsein:
"Wenn du das tust, dann passiert das und das". Es ist selbst erlebt und nicht bloß angelesen.
So würde ich übrigens auch meinen Weg beschreiben, dass ich alles erst selbst habe erleben müssen. Man muss erst alle Fehler machen, erst dann erkennt man die Seelen- und Geistgesetze.


Kann man nicht auch von den Fehlern anderer lernen?
Man kann, man kann! Aber bei meiner Biographie ist das offensichtlich zu wenig passiert. (lacht) Wobei: Es bleibt doch fraglich, denn, von den Fehlern der anderen zu lernen, hieße ja wieder bloß, äußerlich zu erkennen. Ich habe in meiner Biographie viel von dem gewusst, was Rudolf Steiner geschrieben hat, es hat mir aber in meinem seelischen Erleben letztlich oft wenig genutzt; ich musste es trotzdem durchleiden. Vieles von meinem Wissen hat mir in meiner Biographie also letztlich wenig gebracht. Viel mehr hat mir dagegen mein Eigenerleben gebracht. Was mir allerdings viel gebracht hat, das ist der in Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten beschriebene Weg. Das war für mich eine große Hilfe.

Wird es nicht durch die in diesem Buch von Steiner gegebenen Grundwahrheiten über die geistige Entwicklung möglich, gewisse Irrwege zu umgehen?
Ich würde sagen, es kann eine Hilfe sein, den eigenen Weg bewusster zu gehen. So konnte ich z. B. mit Hilfe der von Steiner geschriebenen Mysteriendramen genau sehen, wo ich gerade stehe und was als nächstes auf mich zukommt. Das hat fast immer übereingestimmt. Der Ablauf der Mysteriendramen war auch der Ablauf meiner Biographie.

Höhere Erkenntnisstufen


Ich würde gerne auf die anthroposophischen Erkenntnisstufen zu sprechen kommen, die über dem goetheanistischen Denken stehen:
Imagination, Inspiration und Intuition. Könnten Sie diese Stufen einmal aus Ihrer Erfahrung heraus beschreiben?
Zunächst die Imagination. Nehmen wir einmal das Wort "Bild". Schon wenn ich das Wort "Bild" spreche [H.V. spricht das Wort mit besonderem Ausdruck aus] beginnt die Imagination in meiner Seele aufzugehen. Das hören Sie direkt aus dem Wort, wenn ich es spreche. Aus der gewöhnlichen Vorstellung heraus spreche ich hingegen einfach "Bild" [H.V. spricht das Wort normal aus], hören Sie das? Jetzt aber spreche ich: "Bild" (er spricht es wieder mit dem besonderen Ausdruck). Wenn ich es in dieser Weise spreche, so hören Sie bereits die Imagination, weil ich sie in das Wort hineinlege. Oder nehmen wir "Wollen". Da hören Sie bereits die Imagination, die Tätigkeit, da hören Sie bereits das Bild, die Imagination.

Also anhand des Klanges des Wortes selbst kann ich die Imagination erleben?
Wenn ich es spreche, ja. Ich habe es jetzt aus der Imagination heraus gesprochen. Da löst sich bereits das Bild los. Durch die An wie ich es spreche geht in Ihnen das gleiche Bild auf, aus dem heraus ich spreche.
Können Sie das noch einmal machen?
"Wol-len, Wol-len"

Ich weiß nicht, ob ich gerade ein Bild erlebe, aber doch eine Art Gebärde ...
[H.V. steht auf] Es ist wie ein Ball, der sich dreht, "Wolllll. .. " wie, wenn Sie Wolle zu einem Ball wickeln: ein drehendes Wesen, "Wolll. .. llen" ....


Beim ,,-len" habe ich einen Eindruck, wie von in die Breite gehenden Eurythmiegebärden Ja! "Woll" geht vorwärts, "len" geht in die Breite. Im Äther ist jede Silbe eine andere Stufe.
Damit haben Sie bereits das Erleben der Imagination.

Könnten Sie beschreiben wie Sie die Imagination erleben?
Ich sehe sie als ein innerliches Bild oder besser gesagt: Ich fühle die Bewegung als Bild. Ich habe richtig das Bild innerlich da; ich sehe dieses Rad: "Wollen", und ich sehe auch das Wesen, das das macht.

Sie können also von allen möglichen Dingen eine Imagination haben?
Von allem, in was ich mich mit der Sprache hineinbegebe: in jedes Wort bis in die geistige Form hinein. Ich gehe in das Wort mir dem Äther meines Herzens und füge dem äußeren Wort den Ätherinhalt ein.

Dann müssen Sie also immer von jedem Ding das Wort nehmen?
Ja, immer den Urbegriff. Ich kann aber auch das Ding selbst sehen, als äußere Form und dann die Form aussprechen. Dann komme ich von der Form zum Wort. Ich gehe dabei von dem Urbild aus und komme dann zu dem Wort.

Imagination ist also ein Bild, in dem Sie selbst schaffend darinnen stehen?
In dem ich selbst drinnen stehe, ja. So erlebe ich das. Im Sprechen schafft mein Herz selbst das Bild aus sich heraus.

Michael - Imagination

Wie ist das zum Beispiel, wenn Sie ein geistiges Wesen, etwa den Erzengel Michael, wahrnehmen? Was erscheint da für ein Bild?
Das bedingt, dass ich mich hinsetze und das Bild Michael imaginiere, also in das Bild Michael hineinkomme. Zunächst mal beginne ich mit dem Wort "Michael" und dann beginnt dieses Wort als Bild zu leben: [H.V. singt mit lang angehaltener Stimme:] "Mii-chaa-eel" - jetzt schafft die Imagination, jetzt schafft der Eurythmist. Und jetzt kommt das nächste Bilderleben: Das lebendige Bild selber - diese Imagination, die ich gerade vorgemacht habe - das schafft nun selbst. Das Bild selbst fängt an zu schaffen [er singt]: "Miiii-chaaaa-eeeel..." , das Bild schafft selbst. Wenn ich nun einige Zeit in diesem Bild lebe, dann wird es so verdichtet, dass ich spüre: der Körper fängt an, sich in Farbe zu bewegen. Ich erlebe dann das Weben bis in die Farbe und vor allen Dingen bis in die Flügel hinein [H.V. zeigt in den Raum hinter seinen Rücken, wo die Flügel sind]. Der ganze Raum verändere sich dabei in zwei Dimensionen.

Sie erleben sich also mit Ihrem ganzen Körper
in dem Bild drinnen stehend?
Ja, ich erlebe seine Flügel, ich stehe in seinen Flügeln, in seinem Ernst, in seinem Denken selbst drinnen. Ich lese das in meinem eigenen Körper ab. Ich schaue ihn nicht draußen, sondern ich schaue ihn in dem Körper im Innern und ich stehe da drinnen.

Könnten Sie dieses Bild noch etwas näher beschreiben?
Das ist ganz real bis in die Farbe hinein, bis in die Ernsthaftigkeit hinein: Gold - Weiß - Violett. Jede Gebärde und Bewegung, die er macht, ist Ausdruck und ist Sprache. Das, was er als Gebärde macht, das entsteht im Innern als Bild, als Gedanke und als Kraft.

Sie fühlen sich dann ganz mit ihm verbunden?
Ja, das ist so gewaltig, da kommt man in eine höhere Seinsstufe hinein, in eine Art Überbewusstsein. Jedesmal, wenn ich da herein zu treten versuche, ist es ja so, dass ich eigentlich nichts machen kann; ich kann mich nur anbieten. Ob sich dann wirklich etwas offenbart, da kann ich nichts machen, das ist jedesmal ein Gnadenakt. Aber jedesmal ein Geschenk, dass man so erschüttert ist, aber mit Tränen erschüttert aus Freude, so ein Geschenk zu erleben. Der ganze Raum ist dann für Tage verändert - das spüren Sie ja auch, wenn Sie drüben in die Werkstatt hineingehen.

Könnten Sie beschreiben, worin das Element des "Michaelischen" eigentlich besteht?
Das Element des Michaelischen ist die reine Erkenntnis, ist das reine Gold, vom Metallischen aus gesprochen. Es ist die Intelligenz, die geistig hinter allem webt. Ich würde auch sagen: Es ist eigentlich das Herz des Christus. Wenn ich über einen Menschen spreche und würde sagen: Sie haben ein Herz: ebenso würde ich sagen: Michael ist das Herz des Christus. Wenn ich den Christus als Logos beschreibe und fragen würde:
Was ist die Sonne? Dann würde ich antworten: Michael, die Sonne, wirkt im Herzen des Christus - so erlebe ich ihn. Er ist das Herz, er ist die Sonne, er ist das Kosmische, die kosmische Intelligenz, die als Inspiration aus der Sonne herauswirkt.

Welcher Art sind die Impulse, die er der Erde und den Menschen schenkt, und wo kann jeder Mensch sie finden?
Ich erlebe ihn überall, wo Mut entsteht. Wenn z.B. in einem anrhroposophischen Zweigabend Unwahrheit gesprochen wird und jemand steht mutig auf, um die Wahrheit zu sagen. Oder wenn irgendwo Not ist und jemand mutig eingreift - in solchen Fällen sehe ich ihn immer. Immer in Mutsituationen oder auch da, wo Geistesgegenwart lebt - da erlebe ich ihn immer. Oder auch dort, wo kosmische Intelligenz da ist - da ist er immer da. Er bedient sich dann sozusagen des Menschen: Er geht in die Aura des Menschen hinein bis in den Äther und spricht durch das Herz - es ist immer Wärme mit dabei, immer Licht und Wärme, es ist nie Kälte da. Er verbindet sich dabei ganz mit dem Menschen. Er geht hinein, inspiriert und geht wieder weg. Dauernd hilft er so den Menschen. Er ist dauernd zur Hilfe da. Entsprechend ist es auch bei den anderen Erzengeln, aber in ganz anderen Situationen und in anderen Wesensgliedern. Raffael z. B. wirkt über die Atmung, er wirkt über die Atmung beruhigend. Er wirkt anders als Michael, er wirkt auf die irdische Intelligenz. Michael hingegen ist die kosmische Intelligenz. Wir müssen unterscheiden zwischen irdischer und kosmischer Intelligenz. Wenn ich z. B. etwas auswendig lernen will, wenn ich in die Schule gehe, so brauche ich dazu den Raffael. Anders ist es bei Michael: Zum Beispiel könnte ich morgens, wenn ich aufwache, ein ganzes Buch schreiben - das wäre dann von Michael inspiriert. Das ist eine An von Intelligenz, bei der ein Licht von innen aufstrahlt, das kommt von innen. Wenn ich innerlich durch mein Herz über den Pulsschlag durchgehe, dann komme ich nicht hinten bei meinem Rücken wieder heraus, sondern ich komme in die geistige Welt hinein. Es ist ein Tor in die geistige Welt, durch das der Mensch hindurchgehen kann. Er kommt dann zunächst in einen ganz leeren Bereich, wo es so ist, als ob es nebelig wäre - aber so nebelig, dass Sie keinen Meter weit sehen; und alles ist in Bewegung, es gibt kein oben und kein unten, schon gar keinen Grund unter den Füßen. Dies ist die Schwelle von unserer gewöhnlichen Welt hin zu Michael. Was ich hier meine, das geht allerdings schon über die Imagination, ja sogar über die Inspiration hinaus.

Der Übergang von Imagination zu Inspiration

Könnten Sie, bevor Sie weitergehen, noch einmal den Schritt von der Imagination zur Inspiration beschreiben?
Ja. Sie halten zunächst diese Welt der Imagination innerlich fest. Das macht man mit der Gedankenkraft, welche die Herzqualität in sich hat. Alle störenden Gedanken, welche aufkommen, schiebt man weg. Ich halte jetzt also diese Michael- oder die Raffael-Imagination fest. Und wenn ich sie lange, lange festhalte, dann ist es bei mir so, dass sie irgendwann verschwindet. Danach passiert etwas, was ich oben in der Stirngegend lokalisieren kann, wie wenn ein Vorhang zerreißt. Der Vorhang zerreißt, und es steigt etwas Neues in Farben vor mir auf. Alles ist jetzt In Bewegung, alles wird farbig ...

Es war doch vorher schon farbig?
Das war innerlich farbig, die Farbe war im Innern. Jetzt hingegen tritt die Farbe nach außen. Vorher fühle ich mich violett, ich bin mit meiner Empfindung dabei:
Ich empfinde violett oder ich empfinde rot. Jetzt hingegen tritt die Farbe nach außen:
Jetzt sehe ich rot, jetzt sehe ich violett. Das ist die nächste Stufe. Es steigt jetzt von unten und von oben ein Licht auf, das wie eine Inspiration ist. Man ist dann wieder so erschüttert, weil man erfährt: Ich glaubte immer, dass ich es schon immer gewusst habe; aber jetzt erfährt man: jetzt weiß ich es nicht nur, sondern jetzt habe ich es
auch begriffen. Das hat eine höhere Qualität. Ich weiß es nicht mehr
nur, ich habe es begriffen!

Durch die Inspiration haben Sie also etwas tieferes vom Wesen Michaels begriffen ...
Ja, es erscheint ein Licht, wie ein Blitz, der Sie durchzuckt.

Und ein Erkenntnismoment?
Ja, das ist ein Erkenntnismoment. Wissen Sie, das ist, wie wenn Sie auf einen Schlag ein ganzes Leben von jemandem erkennen würden. Das sind derartig gewaltige Bilder, dass unser Gehirn gar nicht mehr mit kommt. Es wird Ihnen dabei in einem Bild ein so Gewaltiges offenbart, dass Sie über Tage erschüttert
sind. Stellen Sie sich vor, Sie würden über eine Stadt fliegen und würden mit einem Blick die ganze Stadt im Bewusstsein haben. Sie werden von innen heraus so erhellt, dass Sie das gesamte Bewusstsein haben. Hinterher hat man es dann als Bild immer da, sobald man es braucht.

Könnten Sie für ein solches Bild ein konkretes Beispiel geben?
Ich habe zum Beispiel zusammen mit Andrea Schlunk die Nibelungensage der Jordan-Ausgabe im Stabreim gelesen. Sie hat angefangen sie vorzulesen und beim vierten oder fünften Satz der Strophe kam ich durch den Rhythmus der Sprache in ein solches Bilderleben hinein, dass ich innerhalb von Sekunden den ganzen Film habe ablaufen sehen, wie in einem Breitwandfilm im Kino. Ich habe darin sogleich die ganze Geschichte gesehen. Obwohl nur die ersten Zeilen gelesen wurden, hatte ich schon den gesamten Überblick. Groß, farbig, mit Stimmen usw., so dass es auch nicht mehr nötig war, durch Gedanken, die man sonst über das Mittelalter hat, noch etwas hinzuzufügen, denn es hat in sich alles gestimmt, sondern gerade durch die Gedankenleere war es so vollkommen.

Also gerade durch die Gedankenleere hatten Sie sozusagen den Platz in der Seele, so dass das hereinkommen konnte?
Platz, ja! Platz, dass das hereinkommen konnte.

Das gab Ihnen zugleich auch Erkenntnissicherheit?
Ja, das ist sicher, das sehen Sie, das gibt eine solche Sicherheit, das kann man sich gar nicht vorstellen.

Sozusagen die Denksicherheit noch mal hundertfach gesteigert?
Ach, tausendfach! Da ist das Denken so etwas Kleines dagegen, nur wie ein Träumen ist es dagegen. Denn man ist in einem Überbewusstsein. Man braucht danach Zeit, um wieder Fuß zu fassen auf der Erde.

In diesem Überbewusstsein ist für Sie also auch jedem wissenschaftlichen Anspruch Genüge geleistet?
Nein, man muss es dann auch noch im praktischen Leben, in der Geschichte usw., finden.

Aber in Bezug auf die unmittelbare geistige Schau selbst haben Sie vollkommene Klarheit?
Nein, ich würde sagen: In der Inspiration sind noch Täuschungsmöglichkeiten enthalten, das würde ich offen lassen. Die Täuschungsmöglichkeiten sind hier noch insofern vorhanden, als ich eigentlich doch noch Sympathie und Antipathie in den Film mit hineinbringe. Wenn Sie wirklich Sicherheit haben wollen, müssen Sie bis zur Intuition vordringen. Das heißt: Sie müssen die Sache selbst werden. Da würde dann das Wesen so hereindringen, dass ich das selbst bin. Intuition heißt: Ich bin selbst der Baum, ich bin selbst - in diesem Moment - z. B. der Raffel.

Übersinnliche Erfahrungen geistiger Wesenheiten: Ahriman, Luzifer und Asuras

Wie erleben Sie die in der Anthroposophie bekannten geistigen Wesenheiten Ahriman, Luzifer und Christus, wie sie Steiner z. B. in seinem Menschheitsrepräsentanten dargestellt hat?
Die erlebe ich ganz real. Das Ahrimanische im Willen, sowohl bei mir als auch bei Anderen, wenn ich darauf schaue. Das Luziferische in den Phantasien, in Luftschlössern, ganz grob gesagt. Ich erlebe das ganz real in Farben und anderen Erlebnissen. Ich brauche nur in einen Raum hineinzugehen, so spüre ich das sofort, spüre sofort, wie die Doppelgänger der Menschen aufsteigen usw. Das ist wiederum eine Frage der Wachheit. Im Grunde genommen erleben das alle Menschen, sie machen es sich nur nicht bewusst.
Wenn man auch auf das Christliche zu sprechen kommen will, müsste man außer Ahriman und Luzifer zunächst noch die Asuras anschauen. Betrachten Sie die drei Kreuze auf Golgatha: Christus in der Mitte, Vertreter Luzifers und Ahrimans rechts und links. Bei denjenigen Menschen, bei denen kein Ich-Bewusstsein in der Mitte vorhanden ist, treten an Stelle dieses lch-Bewusstseins in der Mitte die Asuras als Ich-Sucht auf. Luzifer, Ahriman und Asuras (Sorat) stelle ich die dreifache Gottheit gegenüber:
Ahriman stelle ich Gott-Vater gegenüber, den Asuras Gott-Sohn und Luzifer Gott Heiliger Geist. Es sind also sechs Kräfte, die Licht und Finsternis repräsentieren: Das Geistige und die irdische Welt.

Was wäre eine typisch ahrimanische Qualität?
Macht, eigene Willensmacht: Ich will. Wenn ich selber will, dann spüre ich das.
Wo ist hier der Unterschied zur Ichsucht?
Die Ichsucht entsteht eigentlich viel weiter innen; sie ist noch viel höher, viel verborgener. Ahriman zu erkennen - ich durfte ja meinem eigenen Doppelgänger begegnen - ist noch relativ leicht. Die Ichsucht hingegen ist so verborgen, so geheimnisvoll, dass man sie nicht so leicht erkennen kann.

Kann man sie nicht auch am Doppelgänger erkennen?
Nein, das sind ganz andere Wesenheiten, viel höher, viel vertiefter, viel raffinierter. Am Doppelgänger erkennt man Ahriman und Luzifer, was für mich eigentlich kein Problem ist; ich gehe auch in der Eurythmie darauf ein, zeige es den Menschen, damit sie es erleben. Aber die Asuras ... das ist schwierig.

Der Hüter der Schwelle und der Doppelgänger

Wer ist eigentlich der Hüter der Schwelle?
Von uns selbst aus betrachtet, ist unser Doppelgänger der Hüter der Schwelle. Von der geistigen Welt aus gesehen, ist Michael der Schwellenhüter. Er kann des Menschen Seele nicht über die Schwelle lassen, solange dieser seinen Doppelgänger noch nicht erlebt und erlöst hat. Wenn Sie meditieren, dann werden Sie erstmal so groß wie ein Haus. Und dann werden Sie so groß wie eine ganze Stadt oder ein halbes Land. Sie wachsen ins Uferlose, der Äther wird größer und größer. Und das ist eigentlich schon die Wahrnehmung des Hüters der Schwelle (= Doppelgänger). Wenn man so an den ter heran kommt, kann es passieren, dass man einen Schreck bekommt, woraufhin man plötzlich wieder ganz klein und in sich ist. Man wird also erst größer und größer, bis man an den Hüter herankommt; und wenn dann noch Ich-sucht, die Asuraqualität, vorhanden ist, wird man zurückgestoßen und sitzt plötzlich wieder so klein wie vorher auf dem Stuhl. Man ist in diesem Fall noch nicht reif.
Wenn hingegen der Doppelgänger ganz herausgeht, indem man immer größer wird und nicht zurückgestoßen wird, sondern am Hüter vorbei gehen kann, dann schallt man sich selbst, dann schaut man seine eigenen Wallungen. Und das ist etwas Fürchterliches, man bekommt Angst vor sich selbst. Vor seinem eigenen Willen hat man Angst, man schaut seine eigene Tierheit an, sein eigenes Wollen, das heißt alles, was in Trieben ist, was Tierheit ist, also auch das Wollen etwa: "Ich will Rennfahrer werden, ich will besser sein" usw ... Alles das offenbart sich in diesem Wesen in einer enormen Größe. Das kommt einem entgegen, das ist unglaublich. Es kommt einem so riesig entgegen, dass man vor sich selbst erschrickt.

Dieser Doppelgänger hat also unmittelbar mit Ihnen selbst etwas zu tun?
Mit mir selbst, ja. Er tritt heraus und ich schaue mich selbst an. Der Doppelgänger ist ein Teil von mir selbst, der negative Teil meines Selbst. Und bei mir war es so, dass ich zuerst den ahrimanischen Willensaspekt erlebt habe.

Wie haben Sie darauf reagiert?
Schockiert, Tage schockiert. Ich habe ihn dann in der Meditation immer wieder hergeholt, denn ich wollte ihn immer wieder anschauen. Ich sagte mir:
Schau dich an! Erkenne dich selbst! Es ist mir aber zunächst nicht immer so gut gelungen. Wenn ich jedoch mal wieder richtig in Wut war, dann ist es mir gelungen. Immer dann, wenn ich mal wieder "die Welt hätte erschlagen können": dann war er plötzlich wieder da. Ich bin einmal aus dem Haus gelaufen und hatte eine solche Wut: Ich musste einfach irgendwas machen, ich hätte wer weiß was tun können, ich hatte ein Kräftegefühl "wie eine ganze Stadt". Und dann plötzlich, wie ein Schock, war er plötzlich wieder da, und ich war schockiert über mich selbst. Ich bin dann ganz klein wieder nach Hause zurück gegangen.

Wie sieht diese Erscheinung aus?
Grau! Grau! Man sieht es richtig als Bild. Es schaut einen an wie graue Wolken, ein Gemisch aus grauen Wolken, das aber ein Antlitz annimmt. Es ist nicht einfach ein normales Bild, sondern es ist grau, wolkenhaft, groß, riesig, und man sieht es innerlich in sich selber grinsen und lachen ...

Grinsen und lachen?
Ja! Grinsen und lachen! Weil man sich selber anschaut. Es ist ein Spott über sich selbst. Nicht wahr: "Was ich alles kann! Was ich alles noch machen werde! Da werden Kolonnen von Lastwagen fahren mit Vetter-Uhren!" Verstehen Sie? "Millionenbeträge werde ich umsetzen" usw ... Diese Dinge erleben Sie dabei als Bild nochmals total gesteigert. Sie erkennen sie jedoch als Irrbilder, als Illusionen. Wenn Sie das ein paar mal erleben, werden Sie sozusagen kuriert. Ihre innere Haltung verändert sich. Jetzt kann Sie irgend jemand beleidigen oder beschimpfen, das Stört einen alles nicht mehr. Es stört Sie nicht mehr, denn es hat mit Ihnen nichts mehr zu tun, die Eitelkeit ist weg, nach dem dritten Mal ist sie weg. Ich habe dadurch einfach die Selbstsicherheit im Geistigen erhalten. Es kann jemand kommen und mir sagen: "Du bist ein Rindvieh, du bist ein Aas" - das stört mich nicht. Wenn Du das meinst - warum nicht? Ich habe ja meine eigenen Phantasien gesehen.

Ist es nicht so, dass man sein Selbstwertgefühl verliert, wenn man sich als einen solchen Drachen erkennen muss?
Nein, überhaupt nicht. Denn es ist von einem selbst wie losgelöst, man ist dann davon befreit. Dazu muss man natürlich durch die Vorbereitung erst reif geworden sein.

Man kann also dadurch, dass man dieses Wesen außerhalb seiner selbst sieht, sein eigenes Selbst neu erleben als eigentliches Ich, das von diesem Wesen getrennt ist?
Absolut, ja. Man beginnt über sich selbst zu lachen, man nimmt sich nicht mehr so ernst. Der Humor wird geboren. Man kann über sich selbst lachen, auch über andere, man ist freudig. Man nimmt auch die Welt nicht mehr so tierisch ernst, d. h. man wird nicht mehr so von dem eigenen Willen getrieben, sondern jetzt ist es folgendermaßen:
Der Wille steigt auf, ich habe eine Idee, aber ich schaue die Idee erst an, bevor ich sie tue, ich bin nicht mehr Sklave meines Willens, das ist der Weg.

Wie ist es demgegenüber beim Luziferischen?
Genau das gleiche. Luzifer erlebt man ja mehr im Seelischen, im Glücksgefühl, im Wohlgefühl usw. Das Doppelgänger-Erlebnis vollzieht sich beim Schauen des luziferischen Aspektes meines Wesens ähnlich wie ich es vorher bezüglich Ahriman beschrieben habe, nur ist es da im Seelischen, während es bei Ahriman im Willen war. Von unten haben Sie ja zunächst das Machtgefühl, das Ahrimanische, da haben Sie das Gefühl von Kräften und Mächten.

Könnten Sie noch auf das Luziferische eingehen?
Das Luziferische lebt eigentlich bloß in den Phantasien. Sie reisen in Phantasiewelten, Sie reisen in den Kosmos hinaus. Das ist schlicht und einfach wunderbar und Sie verlieren dabei den Erdboden unter den Füßen. Sie werden genial, und es fällt Ihnen alles ein, was sie an Größe waren, wer Sie waren, was Sie getan haben usw. Luzifer gibt Ihnen Bilder, dass Sie abheben. Sie schweben dann in Eitelkeit bis dort hinaus. Aber auch schön! Träumereien, Phantasien, schöne Bilder! Und man erlebt, wann man im Laufe seiner Biographie in diesen Welten lebte.

Wohin will Luzifer den Menschen verführen?
In lauter Ideale hinein. Er zeigt einem die schönsten Ideale, gute Ideale, schöne Ideale.Zum Beispiel können Sie sich vorstellen, was Sie in der Anthroposophie alles machen wollen: die ganze Kunst erneuern, die Schulen erneuern und alles mögliche mehr, alles Ideale!

Was ist daran falsch?
Ja, wenn Sie kein Geld haben! Wenn Sie eine Schule gründen wollen, haben aber gar kein Geld - das ist das Falsche, das ist unrealistisch. So jemand sagt: "Ich habe die großen Ideen, Ihr müsst bloß das Geld bringen". Das ist ein luziferischer, abgehobener Idealismus. Das geht bis in künstlerische Formen und in die Sprache hinein, in Gedichte, die wenig Realität haben usw. Das Umfeld wird idealisiert.

Wie erleben Sie das Christliche?
Das Christliche erlebe ich beispielsweise wenn ich Beratungen mache, Horoskopberatungen für jemanden, der Hilfe sucht, der vielleicht krank ist. Wir haben das Gespräch, gehen das Krankheitsbild durch mit Fragen wie: Welches sind die Veranlagungen, wie sind die Organe beschaffen, wie arbeiten die Hierarchien in den Organen? Und irgendwann entsteht in dem Gespräch ein Moment, in dem ich innerlich in meiner Seele berührt werde, es entsteht Mitleid. Und in diesem Mitleid, diesem Mitleiden, erlebe ich den Christus. Wenn ich daraufhin dieses Mitleiden festhalte, dann steigt in diesem Mitleiden die Erkenntnis auf, durch die ich erkenne, was dieser Mensch braucht. Dieses Mitleid ist also die Voraussetzung. Wenn hingegen das Mitleid, dieses innere Berührtsein, nicht da ist, dann sage ich zwar auch etwas, merke aber: Das ist noch nicht durchchristet, es kommt nur aus mir selbst, nur aus der Erkenntnis. Das christliche Erleben ist also immer ein solches inneres Berührtsein in der Seele. Wenn ich in dieses Berührtsein hineinlausche, so kommt da heraus die Antwort. Es ist die Qualität der Liebe, wobei auch die Freude aufgeht, helfen zu dürfen. Es ist nicht mehr das stolze: "Ich bin wer, ich habe geholfen". Das verschwindet alles. Das Urteil muss weg, dann kommt das Mitleid. So erlebe ich das Christliche.

Herr Vetter, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
© Novalis 2003