19.9.10

"Die unterschätzte Welt der Gefühle"

Unter diesem Unter-Titel erschien im neuen Goetheanum Nr. 38-10 ein Artikel von Jasmin Mertens
Der Haupttitel lautet: 
"Die Möglichkeit der Freiheit"

In der normalen anthroposophischen Arbeit wird überwiegend auf das Denken gebaut. Das ist zum Einen eine Kulturnotwendigkeit. Zum Andern unterscheidet sich dieses Denken zunächst nicht von dem Denken, wie es in der alltäglichen Welt gebraucht wird. Aber mit diesem Denken kann man nicht zu einer Geisterfahrung kommen.

Heute muss man davon ausgehen, dass man durch das Fühlen eine Schicht tiefer in die Welt der Sinneserfahrungen eintauchen kann als durch das Denken. Dieses Fühlen soll dann wiederum durch das klare Denken in das Licht des Bewusstseins gehoben werden. Wer Steiners Werk genau liest, der wird finden, dass er immer die Voraussetzung eines vertieften, gesteigerten Fühlens auf dem Weg der Geistesschulung macht. 

In dem oben erwähnten Artikel wird nun in ganz schlichter Weise auf diese Dimension hingewiesen. Allerdings scheint mir die Grenze zwischen Fühlen und Emotion nicht klar genug gezogen zu sein. Das Fühlen umfasst oft noch viel mehr, als die Bereiche, auf die Jasmin Mertens hinweist:

"In der anthroposophischen Literatur findet sich viel über das (freie) Denken, den Willen oder das Handeln. Recht wenig dagegen ist die Rede von der dritten Seelenfähigkeit - dem Fühlen. Für Jasmin Mertens ist Rudolf Steiners Buch (Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Weiten?) in weiten Teilen ein reines Schulungsbuch der Gefühle. Diese erweisen sich als Tore oder Hindernisse zur Wahrnehmung der geistigen Welten."


"Gefühle zu haben, scheint irgendwie suspekt zu sein, zu subjektiv, also und damit nicht besonders lohnenswert, sich damit zu beschäftigen. Da scheint mir ein gewisses Missverständnis vorzuliegen, 
...Bleiben wir noch bei den Nebenübungen: Dort ist insgesamt von 13 Gefühlen die Rede: den Gefühlen von Festigkeit und Sicherheit, von innerem Tätigkeitsantrieb, von Gleichmut und innerer Ruhe, von Sympathie und Antipathie, von Liebe, von Seligkeit und stürmischer Leidenschaft, von Unbefangenheit und Sensibilität für seine Umgebung sowie von Gleichgültigkeit und versöhnlicher Stimmung.
...Gibt es überhaupt Gedanken, denen nicht irgendein Gefühl zugrunde liegt? Nehmen wir einmal das reine, sinnlichkeitsfreie Denken: Dem gehen zumindest Gefühle voran, zum Beispiel das Gefühl des Wissensdrangs oder die Sehnsucht nach Klarheit; es wird begleitet von der Freude an dieser Tätigkeit oder von der Empfindung einer übersinnlichen Welt. ...
Auch unsere Willensimpulse entspringen verschiedensten Gefühlen. Es gibt Gefühle, die uns stärken und befeuern, und andere, die uns schwächen und lähmen. Die größten Feinde der Menschheit und der Erdentwicklung sind Gedanken und Handlungen, die aus den Gefühlen Gier, Geiz, dem Bedürfnis nach Macht, aus Trägheit und Gleichgültigkeit entstehen.
Durch Luzifer haben wir als Möglichkeit die Freiheit im Willen bekommen, durch Ahriman die$elbe für das Denken. Zur Freiheit im Fühlen hat sich Steiner meines Wissens nicht geäußert. Sind wir unseren Gefühlen oder denen anderer Wesen also hilflos ausgeliefert?
Rudolf Steiners (GA 10) ist in weiten Teilen ein reines Schulungsbuch der Gefühle; etwa 90 verschiedene kommen darin zur Sprache. Rudolf Steiner weist unermüdlich darauf hin, wie und welche Gefühle Tore oder Hindernisse sind zur Wahrnehmung der übersinnlichen Welt.
«Man muss gelernt haben, mit seinen eigenen Gefühlen, Vorstellungen umzugehen.» Wenn man mit ihnen umgehen lernen kann, gibt es also auch in diesem Bereich der Seele die Möglichkeit der Freiheit. Haben wir diese Möglichkeit vielleicht Christus zu verdanken, wie die Freiheit im Willensbereich Luzifer und die Freiheit im Denken Ahriman, und sind wir alle nicht erst ganz am Anfang, diese Möglichkeit bewusst zu ergreifen?
...Mit jedem Gefühl, das man hat, verbindet man sich mit dem entsprechenden Wesen. Dieses wirkt dann auf uns, inspiriert auf seine Weise unsere Gedanken und Willensimpulse. Wir wirken durch die Verbindung mit ihm aber auch auf das entsprechende Wesen. Wir schenken ihm menschliche Lebenskraft, und es macht durch unsere Individualität unter Umständen eine neue Erfahrung. Mit je mehr Menschen sich ein geistiges verbinden kann, desto stärker wird es. Rudolf Steiner formuliert diese Tatsache so: «Ich muss zugeben, dass mein Gefühl ebenso eine Bedeutung hat wie eine Verrichtung meiner Hand. » 
Jasmin Mertens, geboren 1957 in Tübingen; Studium der Eurythmie in München; Kindergarteneurythmie und Erwachsenenkurse. Seit 2002 in Berlin in der anthroposophischen Erwachsenenbildung, als Veranstaltungsorganisatorin und Mitglied im Initiativkreis der Anthroposophischen Gesellschaft Berlin tätig.